Kein Unternehmen ohne Leitbild. Die Sehnsucht nach Werten, die Orientierung im unternehmerischen Handeln geben, scheint enorm groß. Die Leitbilder von Unternehmen strotzen nur so von Begriffen wie Wertschätzung, Offenheit, Vertrauen, Respekt, Nachhaltigkeit und Kundenorientierung. Und bei nahezu allen steht der Mensch im Mittelpunkt. Das ist erfreulich, denn schließlich sind es Menschen, die in den Unternehmen tätig sind und es sind Menschen, für die das Unternehmen Produkte und Dienstleistungen anbietet. Nur leider macht die Betonung dieses Menschen im Mittelpunkt die Texte austauschbar, beliebig und, ja, auch irgendwie wertlos (Unübertroffen dazu die legendäre “Mutter aller Imagefilme” des Münchner Obststandl-Didi).
Worte sind noch keine Werte
Leitbilder beschreiben Werte, die Orientierung und Sicherheit für das Handeln des Unternehmens, seiner Führungskräfte und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten sollen. Soweit die Theorie. Das Problem in der Praxis: Werte verkommen all zu oft zu inhaltsleeren Schlagwörtern. Werte bleiben Worthülsen, denen jedes Leben und Erleben fehlt. Und selbst wenn Mitarbeitende die Leitbilder ihrer Unternehmen kennen (und nur etwa jede*r Zweite beantwortet laut der Studie eines Jobportals die Frage danach positiv), identifiziert sich nur weniger als die Hälfte der Mitarbeitenden mit den Leitbildern ihrer Unternehmen. Kann man was dagegen tun? Ja, kann man. Und sollte man was dagegen tun? Auf jeden Fall!
Sinnvoll über Werte sprechen können
Ich bin keineswegs ein Fan von Leitbildern an sich. Sie sind kein Selbstzweck. Kein Unternehmen braucht ein Leitbild, um es an die Wand zu hängen oder im Intranet zu veröffentlichen. Aber Unternehmen brauchen Werte. Viel wichtiger als das Leitbild als Ergebnis ist der Prozess der zu einem Leitbild führt: die Auseinandersetzung mit Werten im Unternehmen.
Jedem Handeln, sei es im Unternehmen oder in sonst einem Bereich des Lebens, liegen Werte zugrunde. Erst in unserem Handeln zeigen sie sich. Und wir sollten uns Gedanken darüber machen, welche Werte das sind. Denn sobald wir auf andere Menschen treffen, merken wir vielleicht, dass deren Handlungen von ganz anderen Werten getragen werden als unseres. Oder das das Handeln irgendwie nicht zu den Werten passen, die als wichtig genannt werden.
Gemeinsame Werte erleichtern die Zusammenarbeit
Ein gemeinsames Verständnis von Werten erleichtert die Zusammenarbeit. Dieses gemeinsame Verständnis schafft man, indem man über Werte spricht. Und das fällt uns oft schwer.
Die zentrale Frage lautet für mich: Wie kann es gelingen, dass man in Unternehmen sinnvoll über Werte sprechen kann, um gemeinsame Vorstellungen von den Unternehmenswerten zu entwickeln und sie dann zum einen im eigenen Handeln erlebbar zu machen und sie im Handeln der anderen zu erleben?
Werte sind vieldeutig
Alles beginnt mit dem sinnvollen Sprechen über Werte. Und das ist gar nicht so einfach. Denn Werte sind vieldeutig und vereinen in einem Begriff sehr unterschiedliche Aspekte.
Der Wert Respekt zum Beispiel mag für manche erstaunlich unterschiedliche Bedeutungen haben:
- Höflichkeit gegenüber Personen, die in der Hierarchie höher stehen oder mehr Erfahrung haben oder schon länger im Unternehmen sind.
- Deine Meinung ist genauso wertvoll wie meine und umgekehrt.
- Bewunderung für und Achtung vor herausragenden Leistungen.
- Hinnehmen, dass andere anders sind.
- Nicht abwertend, nicht untertänig, sondern auf Augenhöhe.
- Anerkennung und Wertschätzung dafür bekommen, was man tut und wie man ist.
Werte beeinflussen sich offenbar wechselseitig, wie sich auch an den Aussagen oben erkennen lässt. Offenbar können wir nur schwer beschreiben, was wir mit einem Wert meinen ohne einen oder mehrere andere Werte zu nennen, die diesen erklären oder sich davon unterscheiden sollen.
Werte zeigen sich im Handeln
Dazu kommt: Werte werden erst lebendig, wenn wir die Verwendung eines Wortes erleben. Werte müssen sich in Handlungen äußern, damit wir verstehen, was jemand mit einem Wert meint. Im Handeln eines Unternehmens zeigen sich die Werte des Unternehmens. Viele alltägliche Entscheidungen von Führungskräften und Mitarbeitenden basieren auf einem Wertefundament. Wie sie handeln, so verwirklichen sie ihre Werte. Insofern kommen Werten auch in Unternehmen eine hohe Bedeutung zu. Ein Unternehmen beispielsweise, dass betont, wie wichtig Vertrauen sei und zugleich handelt es so, dass die Mitarbeitenden immer neue und detaillierte Vorschriften und ausgeklügelte Kontrollmechanismen erleben, dann nimmt man diesem Unternehmen die Ernsthaftigkeit des betonten Wertes nur schwer ab.
Werte systematisch reflektieren
Mit dem Syst-Entwicklungsdreieck steht uns jedoch ein Schema zur Verfügung, das das Sprechen über Werte erleichtert. Es ermöglicht die Betrachtung eines Wertes aus unterschiedlichen Perspektiven. Damit verhindert es, dass eine Perspektive überbetont wird bzw. eine andere vernachlässigt wird. Und es hilft uns, systematisch zu fragen, welche Auswirkungen ein gelebter Wert auf verschiedene Facetten im unternehmerischen Kontext hat.

Das Schema hat die Form eines gleichseitigen Dreiecks und wurde von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer entwickelt. Die Triade ist eine uralte Form, die Unterschiedliches strukturiert, das doch zusammengehört, ohne eine Reihenfolge oder Rangfolge zu implizieren. Das Dreieck hat drei gleich lange Seiten, drei gleiche Winkel und keine Spitze, kein oben und unten. Es ist von allen Seiten betrachtet gleichwertig.
Kopf, Herz, Hand ist zum Beispiel eine solche Triade, oder Glaube, Liebe, Hoffnung, oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Oder der Dreiklang aus Denken, Handeln, Fühlen. Oder eben – im Unternehmenskontext – die Triade Kultur, Struktur, Strategie. Alle Begriffe einer Triade sind gleich-gültig, keiner ist wichtiger als ein anderer und wenn einer fehlt, geht ein wichtiger Aspekt verloren.
Alle diese Triaden bauen auf Quellen auf, die allen Menschen zur Verfügung stehen. Und das Schöne an Quellen ist, dass sie nicht weniger werden, egal wie viel jemand davon nimmt. Hoffnung wird nicht weniger, ganz gleich wie viele Menschen Hoffnung aus etwas schöpfen. So werden trotz aller Unterschiede zwischen den Menschen Gemeinsamkeit möglich. Jeder kann sich in einer Weise in einem oder mehreren Perspektiven der Triade wiederfinden. Und das können wir erleben, wenn wir das Dreieck nutzen, um mit anderen über Werte zu sprechen.
Den Raum der Werte betreten
Das Entwicklungsdreieck kann man sich am besten als eine Art gedanklichen Raum vorstellen, der durch die drei Pole aufgespannt wird und so gewissermaßen entsteht. Jeder Pol ist wie eine Tür, durch die man den Raum betreten kann. Im Inneren dieses Entwicklungsraums können Menschen ihre Werte verorten. Und wie sie das tun, durch welche Tür sie den Raum betreten, wo im Verhältnis zur “eigenen” Tür und den anderen Türen der Wert im Raum verortet wird, das ist höchst individuell.
Eine Tür öffnet sich aus einer Perspektive des “Hin zu”. Durch sie betritt man den Raum unter dem Aspekt der Verbindung, des Vertrauens, der Gemeinsamkeiten. Das Wortfeld zu dieser Tür enthält beispielsweise Begriffe wie Miteinander, Wertschätzung, Demut, Gemeinschaft, Kollegialität, Kommunikation. Im Falle von Unternehmen nennen wir diesen Pol den der Kommunikation und des Miteinanders.
Durch eine andere Tür betritt man den Raum unter dem Aspekt des “Weg von”. Hier versammelt sich alles, was mit Trennung und Unterschieden zu tun hat. Das Wortfeld zu dieser Tür enthält beispielsweise Begriffe wie Erfahrung, Verantwortung, Pflichtbewusstsein, Entscheidungen treffen, Ordnung, Struktur geben. Geht es um Unternehmenswerte nennen wir diesen Pol den der Strukturen und Regeln.
Eine weitere Tür führt in den Raum unter der Perspektive der Balancierens, der Erkenntnis, des Wissens. Das Wortfeld zu dieser Tür enthält beispielsweise Begriffe wie Strategie, Innovation, Unterscheidungsfähigkeit, Veränderung. Bezogen auf Unternehmen nennen wir diesen Pol den der Strategie und der Innovation.
Werte werden nur durch Handeln erlebbar
Werte werden nicht durch Sprechen, sondern durch Handeln in konkreten Situationen erlebbar. Und weil das so ist, können wir so tun, als seien sie verwirklicht, indem wir beispielsweise fragen: “Angenommen, wir behandeln einander mit Respekt: Woran merken wir das konkret?”
- Wie zeigt sich das in unserem Miteinander und in unserer Kommunikation? Wie verlaufen Begegnungen und Gespräche dann anders?
- Was bedeutet das für unsere Art Entscheidungen zu treffen? Woran würden wir merken, dass die Entscheidung unseren Werten entspricht? Was bedeutet Respekt für unsere Strukturen und unsere Regeln im Unternehmen?
- Wie bemerken wir an unserer Strategie und unserem Umgang mit Neuem, dass Respekt ein hoher Wert für uns ist? Wie gehen wir mit neuen Ideen um? Wie mit den Erfahrungen, die die Menschen in unserem Unternehmen bereits gemacht haben?
Eine kleine Übung
Sie können sich zur Übung einen beliebigen Wert Ihres Unternehmens nehmen oder einen Wert, der Ihnen als Führungskraft besonders wichtig ist.
- Zeichnen Sie ein Dreieck auf ein Blatt Papier und schreiben Sie Ihren Wert in die Mitte.
- Benennen Sie die drei Ecken des Dreiecks mit einer Triade, zum Beispiel mit den Begriffen Kultur, Struktur, Strategie.
- Überlegen Sie sich nun, was sich zu Ihrem Wert für Fragen stellen in Bezug auf diese Begriffe. Woran würden Sie an der Kultur, dem Miteinander, der Kommunikation in Ihrem Unternehmen merken, dass dieser Wert wertvoll ist? Woran würden Sie es an den Regeln und Vorgaben in Ihrem Unternehmen merken?
- So gehen Sie alle drei Pole durch und beleuchten sie auf die bemerkbaren Folgen hin, die ihr Wert für den Pol hat, wenn er verwirklicht ist.
Wenn Werte, die wir als für uns wichtig nennen, zu dem passen, wie wir handeln, erleben wir das bei uns und bei anderen als Integrität. Dann passen Reden und Handeln zusammen. Und dann glauben wir erst wirklich, dass jemandem ein Wert wirklich wertvoll ist.
Geteilte Wertvorstellungen schaffen
Wenn die Menschen im Unternehmen beginnen, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, wie sich diese Werte in ihrem alltäglichen Handeln, in ihrer Art miteinander zu sprechen, in ihren Entscheidungen und in ihren Zielen zeigen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Menschen im Unternehmen eine Vorstellung von einem Wert teilen. Weil sie ihn erleben und im Handeln ihrer Kolleg*innen, Ihrer Chef*innen und in ihrem eigenen Handeln wahrnehmen können. Und dann ist auch ein Leitbild mehr als eine Absichtserklärung, sondern wird zum Ausdruck einer gelebten Wirklichkeit, die man vielleicht nicht mal mehr aufschreiben muss.